Mittwoch, 30. August 2017

Lasse Gras darüber wachsen

In der Reihe "1000 Meisterwerke der Digitalromantik 4.0" stellen wir Ihnen heute ein Werk vor, das sich für den Ehrenpreis der Fahrradstadt München bewirbt. Lasse Gras darüber wachsen lautete das Motto, das im Frühjahr und Sommer 2017 eine konsequente Umsetzung erfuhr.
Man könnte meinen, dass die hier gezeigte fotografische Aufnahme der Kampagne einer Umweltpartei entspringt, die auf die perfekte Vereinbarkeit von Natur und Technik aufmerksam machen möchte. Nirgends wird das Konzept einer "grünen Stadt" besser visualisiert als hier, doch weder Green City noch Claudia Roth haben mit diesem Meisterwerk etwas zu tun.


Während der eilige Passant an derlei Objekten hastig vorbeischreitet, und sie lediglich in die Kategorie kurzfristig abgestellte Verkehrsmittel einordnet, bleibt der Kunstinteressierte unvermittelt stehen.
Bei genauer Inaugenscheinnahme drängen sich die Begriffe Street Art, Natural Art und Lost Place Fotografie förmlich auf. Ja, verlorene Objekte an verlorenen Orten finden sich in dieser Metropole zuhauf. Unabgeschlossen stehen sie am Straßenrand, ihrem Schicksal überlassen, unbeachtet. Nicht aber dieses, von saftigem Grün umrankte Werk, das den Betrachter mit essentiellen Fragen konfrontiert: Wieso haben die Jungs von der Stadtreinigung, die dreimal pro Woche hier vorbeikommen, dieses Ding nicht längst mitgenommen?

Verdanken wir es einer behördlichen Zuständigkeitenverordnung, dass ein  funktionstüchtiges Herrenzweirad zu einer malerischen Rankhilfe für Wicken und anderlei Grün mutieren konnte? Man mag angesichts dieses Werks auch darüber spekulieren, ob das abgebildete Vehikel von seinem Eigentümer aufgegeben oder schlichtweg vergessen wurde. Wurde es gar von einem Bösewicht gestohlen, der es nur kurz benutzte? Hat sich der Drahtesel gegen diesen Missbrauch gewehrt, indem er den Gelsattel kurzerhand explodieren ließ? Wir wissen es nicht. Naheliegender ist, dass dieses Gefährt, wie so viele andere, einfach am Straßenrand ausgesetzt wurde wie ein lästiges Haustier, weil sich der Eigentümer einfach etwas Neueres und Schickeres in die Garage geholt hat. Und so dämmert in uns die Erkenntnis herauf, dass wir in diesem Werk einen Blick auf den Seelenzustand des modernen - männlichen - Städters erhaschen.

Konstruktions- und Farbdesign verraten, dass es sich um kein zeitgemäßes Modell handelt. In der bayerischen Landeshauptstadt anno 2017 fährt Mann gänzlich anders Zweirad: gewandet in einen Business-Anzug, einen aerodynamischem Sturzhelm auf dem Kopf, den ledernen Aktenkoffer sicher auf dem Gepäckträger verschnallt. Ein Pedelec oder E-Bike muss es dieser Tage schon sein, will man den feinen Anzug nicht mit unschönen Schweißrändern verunstalten. Für die Outdoorjackenträger darf es auch ein schnittiges Mountain-Bike sein, der Hipster wählt das antike Rennrad oder eine hochmoderne Sonderanfertigung. Jugendliche Baseballmützenträger bevorzugen dieser Tage tiefergelegte Bikes mit Reifen, die genauso dick aufgeblasen sind, wie die überdimensionierten Kappen auf den Köpfen der Fahrer. So spart man sich den Helm.

Der hier gezeigte altbackene Drahtesel versprüht den spießigen Mief der frühen achtziger Jahre. Ein solches Gefährt war damals schon zu funktional um schick zu sein, und es ist nicht alt genug, um in der Jetzt-Zeit als Oldtimer Begehrlichkeiten zu wecken. Wer so ein Vehikel fuhr, als es modern war, benutzt heute eine Gehhilfe. Es liegt auf der Hand, dass sich der mobile, smarte Mann von heute damit nicht mehr identifizieren mag. Demzufolge löst der Anblick dieses Werks im Betrachter einen unangenehm schwebenden Gemütszustand aus, der zwischen Attraktion und Abstoßung hin und her pendelt. Aus diesem fesselnden Werk gibt es kein Entrinnen!

So sehen wir hier eine historisch und soziologisch bedeutsame Aufnahme, die darüber hinaus auch künstlerische Impulse spüren lässt. Ihre Entstehung ist nicht dem Zufall geschuldet. Wer wachen Auges durch die Straßen schlendert, kann an vielen Plätzen beobachten, wie findige Bastler Fahrradleichen gewissenlos ausschlachten. Reflektoren, Sättel, Klingeln, Lenker, Reifen, Pedale, Gepäckträger, Ständer: alles, was sich noch verwerten lässt, wird flugs abgeschraubt und mitgenommen. Nicht in diesem Fall. Hier war die Natur schneller. Sie umhüllte das Fahrrad liebevoll mit ihrem schützenden grünen Mantel, und schuf ein Kunstobjekt von unermesslichem Wert. Die Installation wurde im Verlauf der Monate mehrmals von jugendlichen Vandalen umgestoßen. Kunstbegeisterte haben sie stets wieder aufgerichtet, konnten jedoch nicht verhindern, dass das Objekt zu guter Letzt der städtischen Müllentsorgung in die Hände fiel. Diese fotografische Aufnahme ist der einzige Beweis für die Existenz eines Natural Street Art Ereignisses, das seinesgleichen sucht.

Wenn Sie einen handsignierten Druck dieses exzeptionell wertvollen Werks Ihrer Kunstsammlung hinzufügen wollen, wenden Sie sich an Sotheby's.  Stichwort: 1000 Meisterwerke #0003

Siehe auch: Wir wollen keinen nassen Po, Fahrrad-BildIst denn schon Herbst?, #Fahrrad, Natur @work, Redensarten: Mit dem Fahrrad, Wunschberuf: Gärtner*in

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